Ein Biopsychologe über die Liebe

Der Bauch kribbelt, das Herz klopft: Aber was genau macht die Liebe mit uns, mit dem Körper, mit dem Kopf? Ist sie himmlische Gabe oder neurologische Zwangsstörung?
Von Wlada Kolosowa

Im Stadtpark spriessen Tulpen, auf der Nase die ersten Sommersprossen. Ein Grundschüler zieht ein Mädchen am dicken Zopf, das gluckst vor Freude. Ein Dackel versucht, das Bein seines Herrchens zu begatten. Ein Obstverkäufer hat mir einen Apfel geschenkt, der aussieht wie ein Hintern. Der Verkäufer behauptet, es sei ein Herz. Es ist Frühling. Liebe liegt in der Luft.

Seit November war der Körper im Winterschlaf, an manchen Tagen habe ich vergessen, dass ich überhaupt einen besitze. Aber jetzt ruft die Frühlingsluft ins Gedächtnis: Du hast Arme! Du hast Knie! Einen Bauch, in dem es kribbeln sollte. Und ein Herz, um es zu verlieren.

Wer die Liebe sucht, sollte zuerst bei ihr zu Hause nachschauen – in unserem Körper. Professor Peter Walschburger nimmt mich mit auf eine Tour. Wenn jemand erklären kann, was die Liebe mit dem Körper macht und der Körper mit der Liebe, dann er.

Walschburger ist für den Bereich Biopsychologie an der Freien Universität Berlin zuständig, Journalistenbesuch ist er gewohnt, besonders zur Hochsaison der Frühlingsgefühle. Reporter holen sich ein paar Zitate über verminderte Melatonin- und gestiegene Serotoninproduktion, die uns wach, aktiv und flirtfreudiger macht, und legen dann wieder auf. Dabei freut sich Walschburger, nicht nur über Hormone zu sprechen, sondern auch über die grossen Fragen der Liebe.

Fangen wir mit der allergrössten an: Was ist die Liebe?

Um sie zu beantworten, sagt Walschburger, kommt man um eine andere Frage nicht herum: Was ist der Mensch? Für ihn sind wir Doppelwesen: Auf der einen Seite Kinder der Natur, auf der anderen Kinder der Gesellschaft. Die leidenschaftliche Liebe ist ein Spagat: Sie ist eine evolutionär begründete Fortpflanzungsstrategie und gleichzeitig “eine magische Veränderung des Alltags”. Die Liebesforschung muss also mit einem Bein in den Natur- und mit dem anderen in der Kulturwissenschaft stehen. Deshalb hat Walschburger nicht nur Bücher der Anthropologin Helen Fisher und Biologie-Lexika mitgebracht, sondern auch die “Marienbader Elegie” von Goethe, die dieser im greisen Alter schrieb, weil die 17-jährige Ulrike von Levetzow seine Liebe nicht erwiderte:

Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen,
Von dieses Tages noch geschlossner Blüte?
Das Paradies, die Hölle steht dir offen;
Wie wankelsinnig regt sich’s im Gemüte!

Grosse Worte eines grossen Geistes. “Hier kann ich klar die hormonell unterstützte Dynamik der Verliebtheit herauslesen”, sagt Walschburger.

Drei Systeme der Liebe

Um zu verstehen, warum Goethe so fühlt, müssten wir in die Savanne der altsteinzeitlichen Jäger und Sammler reisen. Vor weit mehr als 10.000 Jahren hat der Mensch seine innere Betriebsorganisation und sein Sozialverhalten ausgebildet. Und auch die drei wesentlichen Teilsysteme der geschlechtlichen Liebe: den Sexualtrieb, die leidenschaftliche, romantische Liebe und die vertrauensvolle Partnerbindung.

Der Trieb dient der Fortpflanzung. In der Pubertät fangen Mädchen an, verstärkt Östrogene zu produzieren, und Jungen besonders Testosteron. Der Sexualtrieb setzt ein, man wird der Eltern überdrüssig, fremde Personen werden interessant. “Die Pubertät ist die Zeit, in der man ständig verliebt ist, aber noch nicht weiss, in wen”, sagt Walschburger.

Romantische Liebe: Zwischen Rausch und Zwangsstörung

Nach der Zeit der diffusen Schwärmereien kommt die erste, alles überstrahlende Verliebtheit. Damit die Menschen eine Beziehung eingehen, muss die Natur die Entscheidung für einen Partner versüssen: Adrenalin und Noradrenalin sorgen für ein leidenschaftliches Temperament und dafür, dass wir für Reize aus der Umwelt empfänglicher werden. Dopamin verändert ähnlich wie Drogen unsere Wahrnehmung und unsere gesamte Erkenntnisleistung: Wie durch Scheuklappen wird die Aufmerksamkeit auf die positiven Eigenschaften des Geliebten gelenkt – die schlechten werden ausgeblendet. Und ausserdem – zumindest eine Zeit lang – auch alle anderen potentiellen Liebespartner.

Viele Sänger haben die grosse Liebe sehnsüchtig besungen, viele Teenager wie hypnotisiert auf das Handy gestarrt, in der Hoffnung, dass es endlich klingelt. Das hängt mit labilisierter Serotonin-Produktion zusammen, die auch bei Zwangsstörungen zu beobachten ist. Akut Verliebte können nicht aufhören, aneinander zu denken, möchten die ganze Zeit zusammen sein, sich ineinander auflösen. Goethe schreibt:

In Gegenwart des allgeliebten Wesens;
Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören
Den tiefsten Sinn, den Sinn, ihr zu gehören

Nach dem Taumel

“Käme Goethe tatsächlich mit Ulrike von Levetzow zusammen, wäre der Spuk nach einem Jahr vorbei”, sagt Walschburger. Nach dem Happy End klingt die Verliebtheit schon nach wenigen Monaten ab. Läuft die Beziehung gut, wird die leidenschaftliche Liebe von der partnerschaftlichen Bindung abgelöst. Das Paar soll schliesslich zusammenbleiben – etwa vier, fünf Jahre lang, bis der Nachwuchs auf eigenen Beinen steht.

Die Bindungshormone heißen Oxytocin und Vasopressin – bekannt als Kuschelhormone, die auch Eltern-Kindbeziehungen zusammenhalten. Die Überhöhung und die hormonelle Fokussierung auf den Partner ist aber vorbei: “Der Mensch ist ein Zwitterwesen – einerseits treu, andererseits untreu”, sagt Walschburger. Wir sehnen uns nach einem vertrauten “Individuum mit Heimcharakter”, bei dem wir uns aufgehoben fühlen – aber auch nach einem immer neuen, geheimnisvollen Partner. Die Verschmelzung kann sogar zum Verhängnis werden: Sind sich die beiden Ichs zu vertraut, sind sie zu sehr zu einem Wir geworden, fehlt das Fremde, sexuell Stimulierende.

Die mächtige Biologie

Heisst das, dass es in unserem Leben nicht nur ein Happy End geben wird, sondern mehrere Happy Ends, alle paar Jahre? “Unser Partnerschaftsideal ist auch von kulturellen Werten geformt, etwa vom Ideal der ewigen Liebe”, sagt Walschburger. “Allerdings wird der Anpassungspreis höher, je weiter man sich von seiner Natur wegbewegt.” Je weiter der Spagat zwischen Natur und Kultur, desto höher die Kosten: etwa für Gesellschaften mit sehr strikter Sexualmoral.

Oder für promiske Grossstadtsingles, die vorgeben, keine Sehnsucht nach einem Partner zu haben – zum Preis einsamer Sonntage und der Angst, allein zu sterben. Zu zweit ist es einfacher, glücklich zu werden. In einer Gesellschaft, in der es keinen existentiellen Druck für die lebenslange monogame Ehe gibt, werden aber neue Formen wichtiger, wie offene Beziehungen oder serielle Monogamie.

Die Natur kann nicht auf alle Fragen eine Antwort geben: “Ich könnte mir meine eigene Partnerschaft nicht biologisch erklären”, sagt Walschburger. Seit 40 Jahren ist er mit seiner Frau verheiratet. “Es hat ja keinen biologischen Vorteil, so lange zusammenzubleiben.” Die Natur sei nicht darauf vorbereitet, dass die Menschen so lange lebten, geschweige denn zusammenblieben.” Wir müssen nach sozialverträglichen neuen Wegen suchen”, sagt Walschburger.

Quelle: www.spiegel.de

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